Verpackungsindustrie fordert Systemrelevanz und „Green Lanes“
Europaweit arbeiten Wellpappefabriken auf Hochtouren. Noch kann die Branche die durch die Corona-Krise steigende Nachfrage befriedigen, fürchtet aber eine Störung der Produktion durch Einschränkungen des grenzüberschreitenden Warenverkehrs. Führende Verbände fordern deshalb, die Verpackungsbranche als systemrelevanten Sektor anzuerkennen.
„Systemrelevanz“ dürfte ein sicherer Kandidat für die Wahl zum Wort des Jahres 2020 sein. Systemrelevant ist, was zur „kritischen Infrastruktur“ des Landes gehört, also unverzichtbar ist. Die gesamte Ernährungsbranche sei systemrelevant, betonte vor wenigen Tagen Bundesernährungsministerin Julia Klöckner und nannte Landwirtschaft, Lageristen und Transporteure sowie Lebensmittelherstellung und -handel. Die Verpackungsindustrie kam in der Rede nicht vor.
Transport- und Verkaufsverpackungen ermöglichen aber erst, dass Lebensmittel und pharmazeutische Produkte hygienisch einwandfrei und effektiv bis zum Endverbraucher gelangen. „Systemrelevant“ ist, so betonen die Branchenverbände der Verpackungsindustrie, aber nicht nur die Verpackung selbst, sondern auch die ungehinderte Lieferung der entsprechenden Rohstoffe.
Lebensmittelwirtschaft ist wichtigster Abnehmer von Wellpappe
Die Menschen kaufen derzeit im Lebensmitteleinzelhandel mehr als üblich ein, parallel steigt auch die Zahl der Bestellungen im Onlinehandel – beides Kernkunden der Verpackungsindustrie. Die Produktion in den österreichischen Wellpappewerken laufe deshalb auf Hochtouren, meldet das Forum Wellpappe Austria. Auch beim deutschen Verband der Wellpappen-Industrie (VDW) ist die Nahrungs- und Genussmittelbranche mit 30 Prozent Absatzanteil die wichtigste Kundengruppe.
Bei den Rohmaterialien und Vorprodukten zur Herstellung von Verpackungen handelt es sich im Wesentlichen um Papier und Karton, Kunst- und Klebstoffe sowie Druckfarben und Lacke, die zum Bedrucken der Verpackungen verwendet werden. In einer Umfrage des Europäischen Wirtschaftsdienstes EUWID Ende vergangener Woche zeigten sich europäische Verpackungshersteller noch gut mit Rohstoffen versorgt. Doch in der Branche wächst die Sorge vor Lieferengpässen aufgrund von Grenzschließungen und -kontrollen zur Eindämmung der Covid-19-Ausbreitung. Es mehren sich Berichte von italienischen Betrieben über Schwierigkeiten, Waren zu senden und zu empfangen.
Lösemittel für Druckfarben könnten knapp werden
Wichtige Druck- und Reinigungschemikalien drohen auch wegen des veränderten Konsumverhaltens privater Verbraucher knapp zu werden. So sei die Versorgung der Verpackungshersteller mit Lösemittel-Produkten durch die exorbitant gestiegene Nachfrage nach Desinfektionsmitteln gefährdet, die auf den gleichen Ausgangsstoffen wie bestimmte Druckfarben und -hilfsmittel basieren.
Der Papier- und Kartonverpackungssektor bemüht sich derzeit um eine europaweit gültige Klarstellung, dass Unternehmen, die an der Lieferung von Rohstoffen beteiligt sind, und Verarbeiter, die die Verpackungen für systemrelevante Waren herstellen, von Beschränkungen, die als Reaktion auf den Covid-19-Ausbruch verhängt werden, ausgenommen sind.
Bereits Ende vergangener Woche hatten der europäische Faltschachtelverband European Carton Makers Association (ECMA) und die europäische Vereinigung der Karton- und Faltschachtelindustrie Pro Carton in einer gemeinsamen Stellungnahme auf die Notwendigkeit offener Transportwege für Rohstoffe zur Herstellung von Verpackungen ebenso wie zur Lieferung von Verpackungen hingewiesen. Grenzschließungen könnten dazu führen, dass Verpackungshersteller ihre Produktion reduzieren oder ganz herunterfahren müssten, was eine erhebliche Störung der Lieferkette von Lebens- und Arzneimitteln zur Folge hätte. Auch der europäische Dachverband der Wellpappeindustrie FEFCO in Brüssel appellierte an die Regierungen, die Grenzen für den Güterverkehr nicht zu schließen.
„Integraler Bestandteil der Versorgungssicherung der Bevölkerung“
Gestern nun wandten sich ein Dutzend Verbände der deutschen Verpackungsindustrie in einem Schreiben an die Bundesminister und zuständigen Staatssekretäre verschiedener Ministerien, um auf die Gefahren für die Lieferkette für Lebensmittel und pharmazeutische Produkte hinzuweisen.
Das Papier, das neben dem VDW unter anderem vom Fachverband Faltschachtel-Industrie (FFI) und vom Verband der Hersteller selbstklebender Etiketten und Schmalbahnconverter (VskE) unterzeichnet ist, enthält konkrete Forderungen: Transport- und Verkaufsverpackungen und deren Rohmaterialien und Vorprodukte für Lebensmittel und pharmazeutische Produkte seien als „integrale und systemrelevante Produkte im Zusammenhang mit Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie“ zu klassifizieren beziehungsweise „Kritischen Dienstleistungen“ im Rahmen von § 4 „Sektor Ernährung“ und § 6 „Sektor Gesundheit“ der Verordnung zur Bestimmung Kritischer Infrastrukturen nach dem BSI-Gesetz gleichzustellen.
„Die Lieferketten von Transport- und Verkaufsverpackungen und deren Rohmaterialien und Vorprodukte für Lebensmittel und pharmazeutische Produkte sind zu schützen und von den Beschränkungen im Zusammenhang mit Maßnahmen beim grenzüberschreitenden Warenverkehr auszunehmen“, heißt es in dem Papier. An nationalen Grenzen sollten entsprechende Maßnahmen zur vorrangigen Abwicklung solcher Produkte („Priority/Green Lanes“) etabliert werden.
Die Europäische Kommission hatte in der vergangenen Woche anlässlich der Corona-Krise Leitlinien zur Kontrolle an den Binnengrenzen vorgelegt und darin gefordert, für den Güterverkehr prioritäre Fahrspuren auszuweisen, um den freien Fluss von Medikamenten, Lebensmitteln und anderen Waren sicherzustellen.
Sicherheit für Logistikunternehmen gefordert
Die Verpackungsverbände fordern von der Politik außerdem Zusagen an die Transportbranche, dass Fahrer in jedem Fall an ihren Ausgangspunkt zurückkehren dürften. Wegen der Verzögerungen an den Grenzen lehnten einige Logistikunternehmen bereits grenzüberschreitende Aufträge ab. Schon jetzt weigerten sich Mitarbeiter von Logistikunternehmen in Gebiete mit hohen Einschränkungen zu fahren – aus Angst, dort in Quarantäne zu geraten und nicht zurückkehren zu dürfen.
Die von der Verpackungsindustrie geforderte Systemrelevanz betrifft auch mögliche Betriebsschließungen von übergeordneter Stelle, die derzeit bereits in einigen Ländern angeordnet werden. Branchen, die als systemrelevant gelten, sind davon ausgenommen. Die Verbände fordern außerdem im Fall von Ausgangssperren Ausnahmegenehmigungen für Mitarbeiter von Herstellern und Zulieferern von Transport- und Verkaufsverpackungen für Lebensmittel und pharmazeutische Produkte. „Die Lieferfähigkeit hat nach der Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten höchste Priorität“, sagt Dr. Oliver Wolfrum, Geschäftsführer des Verbands der Wellpappen-Industrie (VDW).