„Übergroß erscheinende Pakete haben auch ihr Gutes“

Alien Mulyk, Verpackungs- und Retourenexpertin des Bundesverbands E-Commerce und Versandhandel Deutschland e.V. (BEVH), sieht bei Konsumenten eine Kluft zwischen dem Wunsch nach mehr Nachhaltigkeit und der Bereitschaft, dafür auch mehr zu zahlen.

Der Onlinehandel hat seit der Pandemie einen Boom erlebt. Wie sehen Sie die Entwicklung in der Zukunft?

Alien Mulyk: Während der Lockdowns hat der Onlinehandel „den Laden“ im wahrsten Sinne des Wortes am Laufen gehalten. Das betrifft sowohl die Versorgung der Menschen, die dazu übergegangen sind, verstärkt Waren des täglichen Bedarfs zu bestellen als auch viele stationäre Händler, die sich aufgrund geschlossener Geschäfte nur dank eines zusätzlichen digitalen Vertriebsweg über Wasser halten konnten. Spätestens zur Mitte dieses Jahres war aber klar, dass der Onlinehändler das hohe zweistellige Wachstum der Corona-Jahre nicht einfach fortschreiben kann. Das Problem ist allerdings nicht hausgemacht, also nicht E-Commerce-spezifisch. Die Branche befindet sich im Fahrwasser äußerer Einflüsse, allen voran einer grassierenden Inflation und Rezessionsängsten, die deutlich auf die Kauflaune der Kunden schlagen. Wie sich diese äußeren Faktoren verändern werden, kann heute niemand vorhersehen.

Welche Auswirkungen haben Lieferengpässe und Inflation auf den Onlinehandel?

Mulyk: Beide Dinge hängen zwar eng zusammen, allerdings lastet die Lieferkettenproblematik, gerade bei Rohstoffen wie Verpackungsmaterial, schon seit vergangenem Jahr auf den Onlinehändlern. Dass sich das bisher kaum niederschlägt, resultiert aus der höheren Daten-Transparenz digitaler Händler, die ihre Bedarfe sehr gut einschätzen und bei sich abzeichnenden Engpässen Nachschub aufstocken beziehungsweise auf den Weg bringen konnten. Erinnern wir uns: Gerade über das Weihnachtsgeschäft hatte sich der Onlinehandel trotz gestresster Lieferketten weiterhin lieferfähig gezeigt. Völlig machtlos sind die Onlinehändler hingegen mit Blick auf die Inflationsentwicklung. Dieses Problem ist, wenn überhaupt, nur politisch abzufedern. Und es bleibt abzuwarten, inwiefern die geplanten Unterstützungsmaßnahmen der Bundesregierung für Privathaushalte die Konsumlaune wieder heben können.

Eine aktuelle Umfrage von DS Smith besagt, dass zu große Verpackungen für Onlinehändler geschäftsschädigend sein können. Wie sehen Sie das?

Mulyk: Tatsächlich zeigen unsere eigenen Umfragen, dass für rund 43 Prozent der Kunden die Verpackung der wichtige Nachhaltigkeitsaspekt ist. Damit sind sie nicht allein, denn schon aus Kostengründen haben die Händler ein großes Interesse daran, an Verpackungen zu sparen. Es gilt: So wenig wie möglich, aber so viel wie nötig. Onlinehändler arbeiten stets daran, die Versandverpackung für ihre Produkte zu optimieren, also Volumen und damit Füllmaterial zu reduzieren oder ganz wegzulassen. So lassen sich Paketgrößen beispielsweise durch den Einsatz von kostenintensiven Verpackungsmaschinen besser dem Produkt anpassen oder bestehen aus möglichst sortenreinen Materialen für eine bessere Recycelbarkeit. Dabei sind die Onlinehändler aber auch auf die Kooperation der Endkunden angewiesen. Hier zeigt sich jedoch oftmals eine „Attitude-Behaviour-Gap“ – also eine Kluft zwischen dem Wunsch der Kunden nach mehr Nachhaltigkeit und der Bereitschaft, einen eigenen Beitrag dazu zu leisten wie zum Beispiel mehr für nachhaltigere Verpackungen zu bezahlen.

Wenn die Händler an den Verpackungen sparen wollen, wie kommt es dann, dass viele kleine Bestellwaren – zum Beispiel Kontaktlinsen – in viel zu großen Paketen ankommen, die nicht in den Briefkasten passen?

Mulyk: Das hat mit einem Dilemma in der Logistik zutun: Natürlich wäre ein individuell auf den Inhalt angepasste Paketgröße besser, oder dass man die Inhalte vorher rollt oder faltet, damit sie auch in kleinen Verpackungen passen. Gerade die Logistik ist aber auf ein hohes Maß an Standardisierung angewiesen. Das betrifft standardisierte Kartongrößen, die sich dadurch günstiger in großen Mengen einkaufen lassen und beim Transport leichter stapelbar sind. Das betrifft aber auch standardisierte Prozesse in den Versandlagern. Dort muss es oft sehr schnell gehen, weshalb Packern kaum Spielraum bleibt, sich zu überlegen, wie Inhalte auch in kleinere Pakete passen könnten.

Gerade bei zerbrechlichen Waren, kann Luft aber auch als Sicherheitspuffe wirken, um den Inhalt zu schützen und Retouren zu vermeiden. Insofern haben übergroß erscheinende Pakete auch ihr Gutes, weil das nachhaltigste Produkt immer das ist, das heil beim Kunden ankommt.

Wie kommt die Luft aus dem Paket?

Mulyk: Am besten, indem man gar keine Versandverpackung benutzt. Viele Waren sind bereits von einer robusten Produktverpackung geschützt, die sich auch zum Versand eignen. Eine weitere Möglichkeit stellen bereits für den Versand optimierte Produktverpackungen dar, mit denen zusätzliche Umverpackungen, Polster und Füllmaterial entfallen. Umzusetzen ist aber auch das nicht so einfach. Für viele Kunden gehört die Produktverpackung mit zum eigentlichen Inhalt und wie man das Produkt „erlebt“ – obwohl Verpackungen in der Regel sofort aufgerissen und dann nie mehr wiedergesehen werden. Es ist nicht unüblich, dass Kunden einwandfreie Waren retournieren, nur weil sie mit einer Delle in der Produktverpackung geliefert wurden. In der Regel sind Produktverpackungen daher nicht als Versandverpackung designt, sondern nur für die Ausstellung im Laden.

Kunststoff wird immer mehr durch Papier ersetzt: Auch die Luftpolsterkissen in Versandverpackungen – Amazon will dieses Füllmaterial aus Kunststoff ersetzen. Ist denn das tatsächlich die nachhaltigere Lösung? 

Mulyk: Papier ist nicht immer nachhaltiger als Plastik. Im Einzelfall hängt es immer davon ab, was ich verschicke. Es kommt vor, dass Produkte keine Feuchtigkeit vertragen, zum Beispiel Gewürze, oder empfindlich auf schlechte Witterungsbedingungen reagieren. Außerdem ist es wichtig, dass das Papier tatsächlich zu 100 Prozent recycelt und recycelbar ist. Dafür darf es keine äußere Schicht aus Plastik haben. Umgekehrt wird heute bereits an Plastik geforscht, dass nach wenigen Tagen zumindest in Teilen von selbst verrottet. Aber auch bis dieses biologisch abbaubare Plastik in der Breite zum Einsatz kommen kann, dauert es noch.

Abgesehen davon könnten innovative Versandverpackungen abseits von Plastik, Pappe und Papier, künftig eine Rolle spielen. Die Graspapier-Verpackung ist zwar noch ein Nischenprodukt, doch experimentieren Händler verstärkt mit Verpackungen aus nachhaltigen Materialien wie Jute und Stroh.

Was kann und muss der Onlinehandel noch tun, um nachhaltiger zu werden?

Mulyk: Onlinehandel und Logistik können fortlaufend versuchen, Verpackungen und Lieferprozesse zu optimieren, irgendwann werden die Optimierungsmöglichkeiten bei Verpackungen aber ausgeschöpft sein. An dieser Stelle müssen wir uns ins Bewusstsein rufen, dass Umwelt- und Klimaschutz in der Verantwortung der gesamten Gesellschaft liegen, nicht nur in der Pflicht der Unternehmen. Die Idee der Mehrwegverpackung beispielsweise ist hervorragend, bringt aber nichts, wenn die Kunden alten Gewohnheiten nicht über Bord werfen und finden, dass der Rückgabeprozess zu viel Mehraufwand bedeutet. Ein anderes Beispiel ist die Umlage von Zusatzkosten für nachhaltigere Versandarten oder Retouren. Die Kunden schätzen zwar mehr Nachhaltigkeit, nicht alle sind aber bereit, mehr zu bezahlen und so ihren Beitrag zu den damit verbundenen höheren Kosten zu leisten.

Wie kann E-Commerce den stationären Handel stützen?

Mulyk: Jeder stationäre Händler, auch wenn er sich dazu nicht bekennen mag, nutzt digitale Technik. Im Marketing erreichen auch stationäre Händler ihre Kunden vor allem im Internet. Im Geschäft wird immer häufiger digital bezahlt, und auch am „Point of Sale“ wird der Kunde etwa bei der Warendarstellung digital abgeholt. E-Commerce und stationärer Handel gehen heute fließend ineinander über. Das gilt zumindest dort, wo Händler in den vergangenen 25 Jahren bereit waren, sich digitalen Kanälen zu öffnen und ihre Prozesse entsprechend umzustellen. Nennenswertes Wachstum im breiten stationären Bereich findet seit längerem nur noch über und mithilfe eines zweiten digitalen „Standbeins“ statt. Ganz so eindeutig ist es allerdings nicht immer. Es ist paradox: Einerseits war der Einstieg in den E-Commerce technologisch und organisatorisch nie so niedrigschwellig wie heute, andererseits gibt es einen harten Kern im stationären Handel, der sich jedem digitalen Wandel verwehrt oder sich dazu nicht in der Lage sieht. Die Tür ist also offen, man muss nur hindurchgehen.

Alien Mulyk ist Leiterin Public Affairs Europa und International beim Bundesverband E-Commerce und Versandhandel Deutschland (BEVH)

von Anna Ntemiris